Residenzmodell

Hier wohne ich - dort besuche ich
Alleinerziehenden-Modell, Dominanzmodell, Lebensmittelpunkt


"Kinder brauchen einen Lebensmittelpunkt". Dieser Satz wird von Professionellen und von Laien häufig verkündet wie eines der zehn Gebote.

Man darf ihn aber im Einzelfall ruhig kritisch hinterfragen. Unsere belgischen Nachbarn sind von diesem Dogma übrigens gesetzlich abgerückt: Dort ist die "alternierende Beherbergung" die Regel, das Residenzmodell die Ausnahme. Allerdings leben die belgischen Kinder auch schon vorher in der Regel in einem früh ansetzenden Fremdbetreuungssystem mit zwei voll berufstätigen Eltern.

Demgegenüber hat sich die statistisch große Bedeutung des Residenzmodells in Deutschland aus der typischen Rollenverteilung in Deutschland während des Zusammenlebens entwickelt.
Hier ist es nach wie vor die statistische Realität, dass die Mutter während des Zusammenlebens überwiegend für die Alltagssorge zuständig ist.
Ändert sich durch die Trennung schon genug für die Kinder, soll nach "der herrschenden Meinung" zumindest die bisher für die Alltagssorge zuständige Person nicht ausgetauscht werden.

Bindungsforschung und Kontinuität

Bislang gilt der Gedanke der Kontinuität im Familienleben und Umgebung eines Kindes als absolut erstrebenswert.
Laut dem Kontinuitätsprinzip besitzt ein Kind „ein grundlegendes Bedürfnis nach gleichbleibenden und stabilen Lebensverhältnissen“. Das Kontinuitätsprinzip hat seinen Ursprung in der Bindungstheorie. Aus der Bindungstheorie folgt auch der Schluss, dass Kinder in der Situation einer Trennung eine Hauptbezugsperson brauchen. Meist entwickeln Kinder die erste starke Bindung zur Mutter. Nach dieser Idee richten sich auch die meisten Entscheidungen der Eltern, Familienrichter und Gutachter: In über 75% der Fälle behalten die Eltern zwar das gemeinsame Sorgerecht für ihre minderjährigen Kinder, über 70 % der Kinder wachsen jedoch bei nur einem Elternteil, meist bei der Mutter, auf.

Die absolute Gültigkeit des Kontinuitätsprinzips zum Wohl des Kindes, wie es so oft von Juristen vertreten wird, ist allerdings nicht explizit erwiesen. Man vermutet neuerdings sogar, dass ein Kind zu mehr Flexibilität fähig ist als bisher angenommen wurde und dass Diskontinuität die Entwicklung eines Kindes sogar unterstützen kann. So entstanden in letzter Zeit neue Modelle, die als Alternativen zum sogenannten Residenzmodell gelten und die Probleme, die beim Residenzmodell entstehen, lösen wollen (Wechselmodell, Nestmodell).

Auch in der Entwicklungspsychologie ändern sich die wissenschaftlichen Einschätzungen mit der Zeit. Daher finden sich Befürworter und Gegner aller Modelle in beliebiger Zahl mit jeweils guten Argumenten.

Nur wenn es gelingt, auf beiden Seiten die unterschwelligen Motive (Verlustangt, fehlendes Vertrauen in die Elternverantwortung des Anderen, wirtschaftliche Auswirkungen, Bestrafungsbedürfnis, Kontrollbedürfnis u.v.m.) aufzudecken, ist der Blick aufs Kindeswohl überhaupt möglich.

Erfahrungen mit dem Nestmodell

Ein Beispiel:
In Familie Müller sind die Rollen eindeutig verteilt. Die Mutter erzieht die drei Kinder im Alltag, der Vater ist in leitender Funktion vollschichtig berufstätig und häufig auf Dienstreisen. Seine Vaterrolle lebt er an Wochenenden aus. Er hat nicht die Möglichkeit oder nicht das Interesse, seine Arbeitszeiten kinderfreundlicher zu gestalten. Bei Trennung setzt das "Residenzmodell" beinahe nahtlos den familiären Alltag fort, wenn die Kinder mit der Mutter im Eigenheim wohnen bleiben und an Wochenenden mit ihrem Vater Freizeit erleben.
Der Vater stellt aber jetzt möglicherweise fest, dass ihm der unkomplizierte Zugang zu den Kindern, z.B. bei gemeinsamen Alltagsmahlzeiten, und der Informationsaustausch über schulische Belange fehlen. Deshalb schafft er es, sich den Mittwochnachmittag beruflich (fast immer) freizuschaufeln und möchte diesen festen Umgangstag zusätzlich anbieten.
Die Familie kann im "Residenzmodell" mit Umgang an jedem zweiten Wochenende und jedem Mittwochabend am ehesten Kontinuität für die Kinder behalten.

Noch ein Beispiel:
Die jungen Eltern der Familie Maier-Schmitz haben ihre Kinder schon immer tageweise nach einem festen Plan betreut, während sie noch ihre Doktorarbeit schrieb und er seine Selbständigkeit als IT-Berater aufbaute. Mit Hilfe von Oma, Freunden und Tagesmutter bestand ein komplexes Betreuungssystem, bei dem beide Eltern sich beruflich entwickeln konnten und die Kinder gut gediehen und zu selbständigen Persönlichkeiten heranreiften.
Nach der Trennung mieten sie zwei Wohnungen in demselben Mehrfamilienhaus an.
Hier würde das Residenzmodell einen Bruch bedeuten und die Fortsetzung des paritätischen Betreuungsplanes bietet die größte Kontinuität.

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